Feinstoff – Anmerkungen zur Malerei von Gisela Heide

Gisela Heide malt Kleidungsstücke. Kleidungsstücke, die als buchstäblich eigenständige Protagonisten, anstelle einer Person oder eines Körpers, als überaus feinstoffliche Präsenzen auf dem offenen, ungrundierten Leinwandraum erscheinen und diese zu einem Raum umgestalten, durch den etwas definiert, umschrieben und erschaffen wird, das als solches nicht gemalt und eher spürbar als sichtbar ist.

Duftig, leicht, offen und feinstofflich ist die Textur und pastellig sind die Farben der Kleidungsstücke, die der Blick wie ein Schmetterling erobern kann. Hineinfliegen und wieder hinausfliegen, sich einlassen oder auslassen in diese durchfensterten Kleidungsstücke und durch die in den Kleidungsstücken gebundenen, vielschichtigen und dennoch transparenten Hintergründe, in deren Eigenschaften etwas oder jemand entsteht.

Etwas oder jemand ist da, das nicht da ist, dessen Gegenwart aber in zugeschnittenen Stoffen, Mustern und Hintergründen angegeben ist und eben dort zu atmen scheint. Die bemalte oder besser „charakterisierte“ Leinwand wird zu einem Feld von Hinweisen auf etwas oder jemanden, auf Gefühle, Eigenschaften, Träume, auf Lebenszeiten oder Augenblicke und nicht zuletzt auf eine darin eingebundene Persönlichkeit in einer bestimmten Situation.

Per-Sonare heisst „hindurch klingen“ und es ist, als hätten eben jene Kleidungsstücke die Eigenschaft des „Hindurchklingens“. Sie sind wie Filter oder Lochmasken, die aus der Gesamtheit der Möglichkeiten etwas Bestimmtes herausfiltern und hindurch klingen lassen.

Gisela Heides Kleidungsstücke kleiden ein und sie kleiden aus. Sie legen frei, machen ansichtig und durchsichtig. Sie sind transparent, sind ebenso anwesend wie sie abwesend sind, wenn sie sich gegenüber etwas Anwesendem zurückzunehmen scheinen.

Sie sind wie Traumgespinst, sind das Kleidungsstück noch vor dem materiellen Kleidungsstück. Sind wie Umschreibungen eines imaginären Raums, der sich in verschiedene Richtungen öffnen kann.

Sie sind wie ein Hauch, der sich festen Zugriffen entzieht. Sind wie eine Erinnerung, die in der Stille des Raumes aufscheint, aufzieht wie eine Wolke und sich jederzeit wieder auflösen kann.
Diese Auflösung selbst ist in der Malerei mit angegeben. Manchmal bleibt eine Malschicht unfertig oder sie tropft herab, als würde sie schmelzen.

Hintergründe durchweben das Kleidungsstück, gehören mal dazu oder grenzen sich ab, sind mal frei und nicht einzuordnen, fügen ihren Klang dem Kleidungsstück hinzu, nehmen dem Gesamtbild jedwede entschiedene Eindeutigkeit, geben ihr vielmehr einen mehrdeutig mitschwingenden Begleitton oder auch Beigeschmack.

Und dann wieder sind die Kleidungsstücke präsent, unübersehbar und behaupten sich wie eine weiße Wolke an einem ansonsten vollkommen blauen Himmel oder wie ein Flüsterton in absoluter Stille.

Die Künstlerin arbeitet in „Positiven“ und „Negativen“. Das eine steht in enger Beziehung zum anderen. Das eine gibt es nicht ohne das andere, das eine kann nicht ohne das andere entstehen.

Bemalte Leinwand und unbemalte, offene Leinwandparzellen, die von ihrer Umgebung ummantelt werden – mal als Körperform, mal als ein Stoffmuster, mal als ungebundenes Hintergrundmuster – wirken zusammen an einem Bildergebnis, an jenem schwebenden Eindruck, der weit über das Bildobjekt hinausreicht und die Fantasie und das Erinnerungsvermögen des Betrachters in Bewegung zu versetzen vermag.

Kleidungsstücke bekleiden und umschreiben den Körper. Sie sind nicht der Körper. Die von Gisela Heide gemalten Kleidungsstücke sind nicht „unbewohnt“ oder „verlassen“. Es sind keine Kleidungsstücke, die am Haken oder als Massenware am Kaufhausständer hängen. Ihre Kleidungsstücke sind ausgewählte Einzelstücke, sind geschnitten und gemustert in einer Weise, in der sie nicht nur die bzw. das Umschriebene sondern auch einen bestimmten Zeitpunkt bezeichnen:

Die Trägerin ist weiblich. Mal ist sie erwachsen, mal ist sie ein Kind. Mal träumt sie vom Zirkus, mal möchte sie Eis essen (Mädchenkleid). In den einzelnen Kleidungsstücken wird ihre Art, sich durch das Leben zu bewegen spürbar. Mal ist ihre Präsenz klar und anwesend, leuchtend wie an einem Sommertag (Sommerkleid mit Wolken), läuft durch die Wiesen, arbeitet im Garten oder steht unter einem Baum oder posiert für ein Foto. Mal ist sie eine Braut, mal ein Star.

Und dann wieder zeigt sie sich als eine, die bereits vergangen ist, die in den Kleidungsstücken, Schnitten, Mustern, Hüllen und Vorstellungen einer vergangenen, mittlerweile vielleicht auch märchenhaften Zeit steckt.

Es gibt Kleidungsstücke, in denen sich eine Trägerin mit Stolz und Selbstbewusstsein inszeniert oder in denen sie sich aus jedweder greifbaren Materialität hinauszuträumen scheint.

Manchmal lassen die Kleidungsstücke Haut und Knochen entstehen. Nehmen Beziehung zu Wirbelsäule, Rippen und äußeren Körperformen auf (Jacke, 2006).

Und es ist immer etwas Feierliches und etwas Besonderes an den Kleidungsstücken. Selbst wenn das Kleidungsstück ein Alltägliches ist, so wird doch das Außergewöhnliche, das Ausgewählte daran gezeigt: die aufgereihten grünen Knöpfe einer Knopfleiste, das fein ziselierte Muster einer indischen, bestickten Bluse, Stickereien, Blumenmuster, Blütenmuster, Pünktchenmuster, Glockenmuster, geklöppelte Stehbündchen, Stickkrägen, hoheitsvolle Streifen oder rautenförmige Karomuster.

Und immer werden Muster und Stoffe verzerrt und manchmal sogar „verfärbt“ (Kleid mit Schmetterlingen), d.h. in einer lebendig gewirkten der Beziehung zu jenem Körper gezeigt, auf den sie sich beziehen.

Oft sind die von der Künstlerin gewählten Proportionen bzw. Maße der Kleidungsstücke überlebensgroß. Die Hängung der Gemälde ist so, dass der Betrachter mit dem Gesichtsfeld nicht auf Kopfhöhe steht, sondern mitten hinein gerät in das Herz jener gemalten Kleidungsstücke.

In jedem Kleidungsstück zeigen sich andere Persönlichkeiten, Wünsche und Eigenschaften. „Kleider machen Leute“ – der Spruch ist bekannt in den Gemälden von Gisela Heide scheint es sich umgekehrt zu verhalten: Persönlichkeiten lassen Kleidungstücke entstehen, um diese zu vertreten.

Die Kleidungsstücke werden in einer Gestalt dargeboten, die den Körper, der dazugehört erahnen lassen. Der Körper ist als Transparenz angelegt und als ein „Negativ“, um welches sich das „Positiv“ – nämlich das Kleidungsstück – anschmiegt. Der Betrachter als ein Gegenüber hat immer wieder den „Durchblick“ oder das Gemälde lässt „tief“ blicken.

Formen, die leeren, aber geformten Raum umschließen. Formen, die von Mustern durchbrochen und durchfenstert werden. Formen, die einen Rahmen oder ein Gestell für imaginären Raum bieten, eine Lochmaske oder ein Filter sind, durch welchen sich Hintergründiges offenbart.

Kleider umschließen Körper. Umschließen das Äußere an den nahtlos der Innenraum anschließt. Kleider sind Körperhüllen und sind das geschminkte Gesicht dieses Körpers. Sind der Schutz, das Bild in dem sich der Körper sehen will, in dem der Körper gesehen und wahrgenommen wird. Kleider machen Leute. Sie künden vom Träger. Vom Lebensgefühl und von sozialer Stellung, vom Geschmack und vom Beruf, von der Seele und von der Erinnerung des Körpers.


© Cornelia Kleÿboldt, M.A. (Katalogtext)

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