Auf dem Boulevard des Stofflichen

Gisela Heide malt Kleider von ephemerer Gestalt

Sie schweben wie Phantomgestalten im gleichsam luftleeren Raum: Frauenkleider, an denen sensitiv spürbar der Geruch der jeweiligen Jahreszeit und Person haftet; Oberteile, deren gemalte Texturen verschiedenartige gewebte Stoffe oder gestrickte Wolle erahnen lassen, heben sich farblich delikat nuanciert als dreidimensional wirkende und doch halbtransparente Kleiderkörper von dem diffusen Grund ab. Muster scheinen teils signifikant auf und tauchen wieder im Fonds des puren Farbpigmentgewebes ab, darunter vor allem viele Streifen, Florales, Punkte in changierenden Kolorismen. Manche der Ornamente und Schnitte glaubt man der Gegenwart zuschreiben zu können. Andere lassen, wenn auch in fast schon ätherischer Form, die Anmutung an eine längst verblasste Zeit aufsteigen. Hier und da ein Hauch von Biedermeier, Chinoiserie, Fifties. Wer sich wieder und wieder Gisela Heides mit Pigmentfarben gemalte Bilder von femininen Kleidungsstücken vor Augen führt, glaubt nach einer Weile einen weiblich gestimmten Boulevard an Modephänomenen projiziert zu sehen. Es ist, als würde man durch unbekannte Straßen streichen und sähe dort alle möglichen Passantinnen gelassen, aber unaufhaltsam an einem vorbeiziehen. In diesem permanenten Fluktuieren der Figuren kann man sich zwar unmöglich einzelne Gesichter merken, aber bisweilen bleibt die Impression von dem Gewand im Gedächtnis stehen, der Abdruck der jeweiligen stofflichen Hülle. Gisela Heide fängt mit ihrer Malerei im eigentlichen Wortsinn das Wesenhafte von unbekannt bleibenden Persönlichkeiten ein. Naturgemäß kommen auf ihren Bildern deshalb weder Physiognomie noch Gliedmaßen zum Vorschein. „Prinzipiell suche ich nicht nach dem Ausdruck von etwas Individuellem“, sagt die Künstlerin. „Dennoch wird über das jeweilige Kleidungsstück und sein vielleicht einzigartiges Muster eine gewisse persönliche Ausstrahlung sichtbar. Im Wesentlichen geht es mir darum, die Empfindung des Körpers, seine emotionale Durchlässigkeit in der Malerei der Hülle ansichtig zu machen.“

Das Flanieren durch die Großstädte und ihre Moden war – zumindest belletristisch betrachtet – lange ein dem männlichen Geschlecht vorbehaltenes Vergnügen. Baudelaire wusste die Imaginationen des Flaneurs am Beispiel des Pariser Boulevard-Lebens in die Literatur einzuführen. Erst 1962 spiegelte Agnès Varda in ihrem Film „Cléo from 5 to 7“ wie sich die vermutlich malade Protagonistin ausgehend von Shopping-Abstechern und Maskeraden als Flaneurin immer weiter in die Stadt Paris verstrickt. Varda verfolgt in ihrem filmischen Essay das Erleben und die Stimmungslage der urbanen Spaziergängerin, erzählt aber zugleich über die subjektive Wahrnehmung der im Stadtbild auftauchenden Stofflichkeiten, inklusive von Cléos welchselndem eigenem Kostüm, eine Geschichte zwischen Realität und Einbildung. Durchaus vergleichbar mit diesem Zugriff der „Nouvelle Vague“-Regisseurin Varda auf die doppelbödig introspektive wie nach außen gehende Wahrnehmung einer Einzelgängerin findet auch Gisela Heide malend zu Kleidern an der Schwelle zwischen Gesehenem und Imaginiertem. Nicht nur, dass Heides gemalte Gewänder wegen ihres durchscheinenden Charakters beinahe etwas von einer filmischen Projektion haben, die schwer fassbare Erscheinung des Stofflichen streift auch immer die Grenze zum Ephemeren, Wandelbaren, Flüchtigen. Ihre Kompositionen lassen nacheinander betrachtet wie auf dem Laufsteg Modelle des Weiblichen vorbeiziehen, ohne dass damit irgendein Trend bedient werden würde. Es geht vielmehr um das Existentielle der Hülle, um die dünne und vielfältige Membran zwischen Körper und Außenwelt. Gisela Heide erklärt die Ambivalenz so: „Die Kleider in meinen Bildern beschwören zwar Hüllen, aber nicht im Sinne von dem Verborgensein oder Abgetrenntsein einer Person. Sie umhüllen, sie begrenzen, sie verwandeln den Körper; sie verschmelzen mit dem Körper und sind doch nicht der Körper selbst. Die Kleidungsstücke sind in ihrem Material spürbar, aber durch das Transparentsein kann man zugleich etwas Beseeltes wahrnehmen.“
Und noch eine andere Polarität wird in Heides „Gewandstücken“ deutlich: Das Abscannen von anderen Menschen respektive deren femininen Hüllen fällt mit der Wahrnehmung der eigenen Position und damit Körperlichkeit auf fast schon magische Weise zusammen. In einem unaufhörlichen Wechselspiel gelingt es Heide, dass sich der Betrachter in die Struktur des Bildes und seines projizierten Kleids immer wieder hineinzoomt und daraus hinwegbeamt. Ein Prozess, der letztlich einer maltechnischen Raffinesse geschuldet ist: die gemusterten Oberflächen der Gewänder kippen farbperspektivisch partiell in den Hintergrund, umgekehrt scheint dieser wiederum an neuralgischen Stellen nach vorne zu schwimmen. Und gerade bei den stark mit weißem Pigment aufgehellten Bildern von 2006 glaubt man sogar, dass sich der atmosphärische Umraum wie ein Nebelhauch über das vorgestellte Kleid legt und es als Hülle der menschlichen Hülle sozusagen schützt. Dieses Absorptionsverfahren zwischen zweiter und dritter Dimension, Pattern und Körperlichkeit ist ein ganz spezifisches, vielleicht sogar das zentrale Spannungsmoment in Heides Malerei.

Wenn Gisela Heide ihre körperlosen und doch körperhaften Stoffummantelungen in eine Art Schwebeverfahren bringt, dann ist die Phänomenologie des Kleidens auch mit einer kulturellen Geschichte des Ornaments verbunden. „Natürlich ist das Ornament in meiner Malerei auch eine Art Zeichensprache. Jede Kultur hat ihre spezifischen ornamentalen Formen und Muster entwickelt, die in der kollektiven Erinnerung des Menschen verankert sind. Gleich verschlüsselten Codes vermitteln sie eine Bildsprache, die unbewusste Ebenen in uns berührt“, sagt Gisela Heide. Wobei sie mit den angerissenen Codes oft das Hybride der Mode betont. Ein kimonohaftes zweiteiliges Gewand in Violett zeigt anstelle der vielleicht erwarteten japanoiden Muster eine Mixtur aus Paisley und Floralem. Eines der schönsten, weil von gleichsam milchigem Licht durchfluteten Bilder hat ein Schmetterlingskleid zum Motiv, dem die aufgedruckten Falter förmlich davonfliegen zu scheinen. Schleifen markieren als finales Accessoire oft den Ausschnitt und betonen damit den Übergang zur eigentlichen fleischlichen Hülle, sprich zu der bei Heide nur andeutungsweise sichtbar werdenden Haut des Menschen. Heide stellt zur Entindividualisierung ihrer meist übermenschengroß gegebenen Kleider keinerlei körperliche Merkmale vor. Es ist vor allem die fließende Silhouette, die eine imaginäre Person umschreibt. Eine Silhouette, die zusammen mit dem plastisch gemachten Faltenwurf und den gleichsam flirrenden Farben auch das Bewegliche des Körpers wie eben beim Flanieren formuliert. Weiblichkeit in der abstraktesten Gestalt formulierte sich in der Antike über die Draperie und Säulenfigur – etwa der Karyatiden. Und es sind bis heute die Hüllen, Fetische und Surrogate, die das männliche Begehren im Blick auf das andere Geschlecht konnotieren. Elisabeth Bronfen verweist in dem Zusammenhang auf die abgeklärte Performance von Hitchcocks blonden Schauspielerinnen, „deren vollkommene Haltung und Gelassenheit Weiblichkeit ganz selbst-bewusst als Maskerade in Szene setzt“. Gisela Heide entwirft im Gegenzug mit ihrer Malerei einen neuen selbst-betonten und doch chamäleonhaften Kleider-Boulevard der weiblichen Identität.

Birgit Sonna

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