Gespensterkörper

Gisela Heides Gemälde beschwören, was nicht da ist


In Neapel, in der Cappella Sansevero, ist eine Skulptur zu besichtigen, die die Grenzen dessen erreicht, was Bildhauerei darzustellen vermag. Der Christo Velato, der verhüllte Christus des Barockbildhauers Giuseppe Sanmartino erweckt den Eindruck, als scheine durch das in Stein gehauene Grabtuch tatsächlich ein Körper hindurch. Als würde der Blick nicht an diesem Tuch aus weißem Marmor enden, sondern könnte den Stein durchdringen, eine Schicht tiefer gelangen, bis zu den eingewickelten Gebeinen Christi.


„Personare” heißt der Titel der Ausstellung von Gisela Heide – „hindurch klingen”. In den Werken der gelernten Bildhauerin aus Moosach tritt etwas zu Tage, was eigentlich gar nicht da ist: Körper, die durch das, was sie umhüllt, erst erscheinen. Heide nutzt für diese Art von Gespensterbeschwörung nicht Stein und Meißel, sondern Leinwand, Pinsel und Eitempera oder Acryl. Ihre Herkunft von der Bildhauerei bleibt aber sichtbar: Wo man in ihrer Ausstellung in der Alten Brennerei auch hinblickt, erkennt man Torsi. Teils in klassischer Positur, aufrecht, sich in die Brust werfend, teils auch in verhuschter Alltagsgeste. Strenggenommen ist es zwar nicht der Körper, sondern nur seine Hülle – es sind Kleidungsstücke, Blusen, Pullover, Jacken (allesamt weiblich), die Heide malt. In den Wölbungen aber, im Volumen, in der Tiefe der Bilder, erscheint er dann doch, der Körper. So, wie auf dem Negativ eines Fotos, wo Hände und Gesicht sich im Dunkel, in der Andeutung verlieren.


Einen „Vorwand” nennt Heide die von ihr gemalten Kleidungsstücke, einen Vorwand, um etwas anderes sichtbar zu machen. Und doch ist dieser Vorwand untrennbar mit dem verbunden, was zum Vorschein gebracht wird. Kleider machen Körper, der Körper macht das Kleid – ohne, dass man am Ende noch klar trennen könnte, was jetzt wirklich Gefäß, was Inhalt ist, was Medium, was Botschaft. Ähnlich ergeht es einem mit dem Material, mit der Farbe, der Leinwand, und dem Motiv. Die künstlerischen Mittel dienen natürlich der Darstellung, der Re-präsentation von Kleidung, von Textilien. Andererseits lässt Heide an zahllosen Stellen ihrer Bilder die Leinwand durchscheinen, gibt den Blick frei auf das unbemalte Gewebe, das selbst Textil ist und es nicht nur darstellt. Auch Farbe gewinnt hier ihr eigenes, materielles Gewicht: Immer wieder tropft sie von den horizontalen Linien, in denen sie mit dem Pinsel aufgebracht ist, nach unten, vertikale Schlieren ziehend, der Schwerkraft folgend. Am unteren Bildrand legt Heide bei manchen Werken deren Schichten offen, zeigt in chromatischen Leisten die Farben, die hier nach und nach übereinandergemalt wurden.


Es wäre wohl ein Weg in die Irre, begäbe man sich beim Anblick von Heides Bildern auf die Suche nach dem Kern, nach dem, was sich hinter den Kleidern versteckt, was hier verborgen wird. Unnütz zu unterscheiden, was Hülle, was Substanz ist, was Material, was Motiv. Das eine ist in diesen Bildern so dicht mit dem anderen verwoben, dass eines allein gar nicht existieren könnte. Verbergen und Entbergen fallen in eins, in der Verhüllung tritt der verhüllte Körper erst zu Tage. Und so ist es letztlich auch müßig zu fragen, wer denn die Person sei, die sich hier wohl hinter ihrer Kleidung, ihrer Rolle, ihrem Anschein verberge: Es gibt diese Person nicht gänzlich losgelöst von den Verkleidungen, die sie zum Ausdruck bringen, von den äußeren Schichten, durch die sie hindurch klingt. Die Identität, das Ich, bleibt eine offene Frage, oder, wie Gisela Heide sagt, „ein Hauch”.

CHRISTOPH KAPPES
Süddeutsche Zeitung Ebersberg, Nr. 210, vom 12.9.09 

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